Täter oder Opfer - ist es so einfach?
Manchmal passieren beschissene Dinge in einer Beziehung.
Ich werde angelogen, ich werde betrogen, ich will mich trennen, ich fühl mich abgewertet und ungeliebt. Diese Liste lässt sich wohl noch eine Weile fortsetzen. Jeder hat andere Erfahrungen, Themen und Empfindlichkeiten.
Aber die meisten Menschen, die schon mal eine Beziehung oder Freundschaft erlebt haben, haben auch Verletzungen erlebt. Das lässt sich in Kontakt mit anderen kaum vermeiden.
Wie gehe ich mit Verletzungen um?
Das meine ich ganz unabhängig von der Art der Verletzung, aber ich will mich mehr auf die emotionalen als die körperlich gewalttätigen beziehen. Letztere sind einfach noch ein ganz anderes Thema.
Wie bist also du mit einer vergangenen Verletzung umgegangen?
Wurde geredet, wolltest du überhaupt? Bist du direkt gegangen? Warst du der Moralapostel oder das Opfer? Hast du zurückgeschlagen, dich gerächt oder wolltest es dem anderen heimzahlen? Konntest du verzeihen, loslassen oder neigst zu nachtragendem Verhalten?
Nach meiner Erfahrung tun wir jede Menge davon. Nicht immer bewusst. Aber meistens, aufgrund bestimmter Urteile, fühlen wir uns im Recht. Der „Täter“ verliert also jegliche Rechte?
Wer hat uns dann zum Richter gemacht?
Im Umkehrschluss aber ist auch richtig, dass wir verletzt sein dürfen, dass wir uns wehren dürfen, dass wir gewisse Grenzen erkennen und respektieren. Nicht alles mit uns machen lassen, nicht alles aushalten. Auch gehen dürfen.
Wer hat nur jetzt Recht?
Beide.
Die Frage ist nicht wer Recht hat, sondern wann und in welchem Bezug?
Wenn ich mit Einzelpersonen oder Paaren arbeite, beschäftige ich mich mit beiden Seiten. Ich versuche beide zu verstehen. Gründe für die Gedanken und Taten zu finden. Möglichkeiten geben sie auszusprechen. Situationen schaffen, in denen versucht wird zu verstehen (auch wenn man nicht einverstanden ist).
Denn wenn wir uns mit zwei oder mehr Menschen beschäftigen, bekommen wir oft ebenso viele Sichtweisen. Und ich habe gelernt, dass fast jeder sich darin üben darf, die andere Seite zumindest zu versuchen zu verstehen.
Jeder sieht die Situation etwas anders, hat unterschiedliche Erfahrungen im Leben gemacht und reagiert anders auf völlig verschiedene Situationen. Wie soll man das also alles kennen und berücksichtigen? Das geht nicht. Zumindest nicht vollständig. Aber es heißt nicht, dass wir uns nicht darin üben können.
Nimm dir mal eine Situation, die einen Konflikt verursacht hat und spiele folgende Fragen für dich durch:
Ich nehme mal das Beispiel eines heimlichen ONS außerhalb der Beziehung (ja, das ist schon mehr als eine Kleinigkeit, aber es lässt sich prima hierfür nutzen).
Mein Partner gesteht einen ONS (oder wurde erwischt). Wie reagiere ich jetzt?
Ich kann verletzt sein, wütend, erleichtert. Ich kann es nicht verstehen, warum er/sie das getan hat. Ich frage mich vielleicht, was an mir nicht „gut genug“ ist?
Ich kann das monatelang im Kreis drehen, nicht vergessen und ständig vorwerfen, oder ich kann es verzeihen. Es kann mir auch egal sein.
All diese Reaktionen gibt es.
Oftmals wird mit Angst und Verletzung reagiert, manchmal mit Wut als Resultat.
Warum hast du das getan? Warum ist das bei mir passiert? War es auch mein Fehler?
Kann und will ich jetzt noch mit dir zusammen sein?
Warum muss ich jetzt reparieren und verzeihen, bin ich nicht das Opfer?
Wann habe ich mal nicht richtig zugehört, etwas ins lustige oder lächerliche gezogen? Hat der andere wirklich keinerlei Vorwarnung gegeben?
Was erwarte ich generell von meinem Partner? Was bin ich bereit zu geben, wo bin ich bereit mich zu verändern?
Denn weißt du was? Die Schuld-Frage bringt euch nicht weiter. Jeder ist irgendwo Opfer und jeder auch Täter. Ja, man macht Fehler, ok. Aber manchmal sind die gut. Weil sie uns weiterbringen. Raum für eine ehrliche Unterhaltung erzwingen, die vielleicht schon vor Jahren/Monaten gut gewesen wäre.
Über seinen Schatten springen tut weh. Die eigene Komfortzone zu verlassen ist unangenehm. Geht es manchmal schief? Klar. Lohnt es sich trotzdem? Auf jeden Fall.
Denn was bedeutet es Recht zu haben? Klar ist das was tolles. Aber geht es in Beziehungen darum Recht zu haben?
Und noch wichtiger: zu welchem Preis will ich recht haben?
Hab ich lieber recht und bin allein oder kann ich auch unrecht haben, aber mein Partner versteht mich?
Denn was ist es, was wir wirklich von Beziehungen möchten?
Verbindung.
Verbindung zu anderen Menschen, Verbindung zu uns, den eigenen Gefühlen und denen der anderen. Wir wollen lieben, dazugehören und geliebt werden, sicher aufgefangen sein, auch wenn wir eigene Wege gehen.
Deswegen ist es leichter auf Familie wütend zu sein. Wir wissen, sie lieben uns trotzdem.
Das geht, wenn andere uns auffangen.
Denn ich bin nicht der einzige mit Fehlern, Marotten und Empfindlichkeiten!
All diese Dinge zu durchdenken ist eine Sache. Man muss sich dem Ganzen öffnen, bereit sein, das nur vor sich selbst zu tun.
Das Ganze aber mit dem Partner oder Ex-Partner zu tun bedarf meist noch mehr Mut und Vertrauen, weil die Basis erschüttert wurde. Daher kann es leichter sein, es in einer Beratung zu tun.
Wobei ich euch gleich mal ein Vorurteil wegnehmen darf.
Nur weil ihr zu einer Paarberatung geht, heißt das nicht, dass ihr (oder ich) zwangsweise eure Beziehung repariert – am besten noch mit Garantie und bestimmten Zeitrahmen.
Ihr könnt auch zu mir kommen und eine Trennung organisieren.
Wenn nur einer sich trennen will, bringen dich auch Einzelgespräche weiter.
Ihr könnt beides abwechselnd tun.
Zwischen den Terminen Zeit vergehen und Gedanken sacken lassen, Hausaufgaben machen (ja so was mache ich 😊), d.h. auch Wartezeiten haben ihr Gutes und sind notwendig.
Ich freu mich, wenn du etwas aus diesem Artikel mitnehmen konntest. Und ich freu mich auch, wenn ich dich kennenlernen darf. Denn jedes Paar ist anders. Und es macht mir immer wieder aufs Neue Spaß alle Beteiligten kennenzulernen.
Alles Liebe
Naomi